Das rote Westfenster des ersten Goetheanums

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Entwurf Rudolf Steiners für das rote Westfenster des ersten Goetheanums, das in bildhafter Form das Wesen der Imagination zeigt.
Detailskizze Rudolf Steiners (1913/14).

Das rote Westfenster des ersten Goetheanums schilderte in bildhafter Form das Wesen der Imagination.

Mittelscheibe des roten Westfensters (Jadwiga Siedlecka u. Francisczck Siedlecki 1914/15).

Der Weg zur imaginativen Erkenntnis wurde im linken Seitenfenster gezeigt. Das wärmende Rot, in dem sich der Wärmeäther kundgibt, durchdringt das ganze Bild. Man sieht, da die Selbsterkenntnis beginnt, eine helle Gestalt, die einen hohen Felsen erklettert hat und ihren Blick und ihre Arme abwärts auf drei groteske vogel- und schlangenähnliche tierartige Gestalten richtet, die sich bedrohlich empor strecken; die rechte zeigt sogar ein menschenähnliches Antlitz. Das ist die niedere seelische Natur des Menschen, die Dreiheit der noch ungeläuterten Seelenkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens, in denen noch niedere, tierische astrale Kräfte wirken. Es sind die drei Tiere aus dem Abgrund, auf die uns der Hüter der Schwelle hinweist, wie es Rudolf Steiner 1924 auch in den esoterischen Unterweisungen für die erste Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum beschrieben hat:

„Hingerufen hat er uns, der Hüter, so daß wir ihm ganz nahe stehen. Mit ernstem Antlitz schaut er uns entgegen. Und er zeigt uns, wie unser Wollen, unser Fühlen, unser Denken vor dem Antlitze der Götter erscheint in Imaginationen. Da ist es noch nicht menschlich, dieses Wollen, dieses Fühlen, dieses Denken, da ist es noch tierisch. Da ist die Selbsterkenntnis noch bestürzend, niederschmetternd.

Aber durchgehen müssen wir durch die Erkenntnis jenes Selbstes, das uns unsere Zeit, unsere Weltenzeit aus ihrer Irrtumsbildung heraus gibt, damit wir zu der wahren Selbsterkenntnis vordringen können.“ (Lit.:GA 270c, S. 33)

Und so spricht der Hüter am gähnenden Abgrund des Seins, nachdem wir ganz nahe herangetreten sind (Lit.:GA 270c, S. 35):

Doch du mußt den Abgrund achten;
Sonst verschlingen seine Tiere
Dich, wenn du an mir vorübereilt'st;
Sie hat deine Weltenzeit in dir
Als Erkenntnisfeinde hingestellt.

Schau das erste Tier, den Rücken krumm,
Knochenhaft das Haupt, von dürrem Leib,
Ganz von stumpfem Blau ist seine Haut;
Deine Furcht vor Geistes-Schöpfer-Sein
Schuf das Ungetüm in deinem Willen;
Dein Erkenntnismut nur überwindet es.

Schau das zweite Tier, es zeigt die Zähne
Im verzerrten Angesicht, es lügt im Spotten,
Gelb mit grauem Einschlag ist sein Leib;
Dein Haß auf Geistes-Offenbarung
Schuf den Schwächling dir im Fühlen;
Dein Erkenntnisfeuer muß ihn zähmen.

Schau das dritte Tier, mit gespaltnem Maul,
Glasig ist sein Auge, schlaff die Haltung,
Schmutzigrot erscheint dir die Gestalt;
Dein Zweifel an Geistes-Licht-Gewalt
Schuf dir dies Gespenst in deinem Denken;
Dem Erkenntnisschaffen muß es weichen.

Erst wenn die drei von dir besiegt,
Werden Flügel deiner Seele wachsen,
Um den Abgrund zu übersetzen,
Der dich trennet vom Erkenntnisfelde,
Dem sich deine Herzenssehnsucht
Heilerstrebend weihen möchte.

Zugleich ist das auch ein Bild für die noch unvollkommenen seelischen Wesensglieder: die Empfindungsseele, die Verstandes- oder Gemütsseele und die Bewusstseinsseele. Wenn es dem geistig strebenden Menschen gelingt, sich von dieser niederen Natur zu lösen und sie von außen objektiv zu betrachten, kann die Imagination aufleuchten.

Das linke Seitenfenster trägt im Entwurf Rudolf Steiners den Untertitel: ES offenbart.

Im mittleren Fensterteil ist die bereits erwachte Imaginationsfähigkeit dargestellt. Das menschliche Antlitz, das hier gezeigt wird, trägt auf der Stirne das Zeichen der zweiblättrigen Lotosblume, die bereits aktiviert ist. Die Augenpartie ist besonders betont, die Kraft des geistigen Sehens, der Imagination ist erwacht, weil sich die Erlebnisse des Stirnlotos im Lichtätherteil des menschlichen Ätherleibes abdrücken.

Daneben sieht man links und rechts oben zwei geflügelte Engelwesen, die der ersten Hierarchie angehören. Bei der linken Engelsgestalt ist das Zeichen des Mondes, bei der rechten das Symbol der Sonne zu sehen und über dem Menschenkopf der Saturn. Damit wird auf die dem Erdendasein vorangegangenen planetarischen Entwicklungsstufen hingewiesen, auf den alten Saturn, wo der Mensch die Anlage des physischen Leibes und bekommen hat, auf die alte Sonne, die dem Menschen den Ätherleib gab und schließlich der alte Mond, der Planet der Weisheit, auf dem der Mensch seinen Astralleib erhielt.

Darunter sieht man links und rechts zwei Gestalten mit Tierköpfen, die dem Menschen offenbar etwas ins Ohr raunen. Hier wird bereits auf ein Klangerlebnis gedeutet. Der Klangäther ertönt. Diese beiden Wesenheiten gehören der zweiten Hierarchie an. Die Linke Gestalt trägt einen Löwenkopf, durch den die Ätherkräfte symbolisiert werden; die rechte Figur hat einen Stierkopf, ein Zeichen für die physische Welt.

Im Kehlkopfbereich ist das Halschakra sichtbar, das bereits auf die inspirierte Erkenntnis hinweist. Die seelischen Erlebnisse drücken sich nun auch im Wort- oder Lebensäther ab. Darunter ist Michael, der wichtigste Repräsentant der dritten Hierarchie, zu sehen, der Helfer, der den Drachen, die niedere Natur des Menschen, mit bekämpft und vereint mit den Kräften des Menschen niederzwingt.

Der Entwurf zum mittleren Fenster trägt den Untertitel: ICH SCHAUE.

Im rechten Seitenfenster ist der Mensch gezeigt, nachdem er die Imaginationsfähigkeit errungen hat. Wieder sieht man die helle menschliche Gestalt auf der Spitze des hochragenden Felsens, ihre Arme und ihr Blick sind nun der geistigen Sonne zugewendet, die mit ihrem strahlenden Leuchten den obersten Bildteil erfüllt. Zwischen dem Menschen und den Tieren im Abgrund schweben drei Engelpaare, die einander die Hände reichen. Sie stellen zugleich die geläuterten höheren Seelenkräfte des Menschen dar. In ihrem Schoß tragen sie auch die höheren zuküftigen geistigen Wesensglieder des Menschen: das Geistselbst, den Lebensgeist und den Geistesmenschen. Zusammen mit dem Menschen an der Spitze geben die drei Engelpaare ein Bild der heiligen Siebenzahl. Die Tiergestalten aus der Tiefe sind zurückgesunken. Die Bewusstseinsseele hat sich durch die geistige Schulung zur Imaginationsseele verwandelt.

Als Untertitel steht hier im Entwurf Steiners: ES hat geoffenbart.

Das rote Westfenster des zweiten Goetheanums

Da die Glasfenster beim Brand des ersten Goetheanums in der Silvesternacht 1922/23 zerstört worden waren, gravierte sie Assia Turgenieff für das aus Beton gebaute zweite Goetheanum neu. Wegen der geänderten Architektur konnte allerdings nur für das rote Westfenster die ursprüngliche Anordnung mit zwei schmalen Seitenfenstern und einem großen Mittelfenster beibehalten werden. Bei den anderen acht Fenstern wurden die schmalen Seitenmotive unterhalb des breiten Hauptmotivs angeordnet.

Das rote Westfenster des zweiten Goetheanums

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.